Achtsam in Zeiten des Virus

Kontaktsperren können Stress auslösen. Bei Stress helfen Achtsamkeitsübungen. Virus-Zeit ist somit auch Zeit für mehr Achtsamkeit. Ohnehin verlangt die wechselseitige Verantwortung, daß wir nun bewußter und achtsamer miteinander umgehen. Die Menschen sind aufgefordert, achtsam einen physischen Mindestabstand von 1,5 Meter einzuhalten. Sie sollten sich regelmäßig und achtsam die Hände waschen. Und auch wenn man jung ist und gerne auf Partys geht, lautet das Gebot der Stunde, achtsam für die Schwachen in der Gesellschaft zu sein, die durch dieses Verhalten indirekt gefährdet werden können.

 


Der 6. Sinn

Achtsamkeit ist eine zwischenmenschliche Qualität. Sie bezieht sich nicht nur auf Hygienefragen. Bei physischer Distanz kann gute Kommunikation soziale Nähe bewahren. Nie war es wichtiger, gut zuzuhören und sich in andere Menschen einzufühlen. Laut Kabat-Zinn, den Begründer der MBSR (Mindfullness Based Stress Reduction) geht es bei der Achtsamkeit nicht um eine kognitive Übung. Im Zentrum des Ansatzes steht nicht das Schärfen der Sinne. Es ist nicht richtig, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gleichzusetzen. Man sollte vielmehr aufmerksam sein, um achtsam zu werden. Wenn das gelingt, verwirklicht man das, was Kabat-Zinn, Herzensweisheit nennt. Achtsamkeit ist der „6. Sinn“, eine Wahrnehmung, die über die fünf Sinne hinausgeht, und uns erlaubt, andere Menschen und die Welt auf eine neue wertfreie Art und Weise wahrzunehmen.

Gerade in Zeiten, in denen viele unserer Werte wie Versammlungs- oder Religionsfreiheit in Frage gestellt sind, ist es wichtig für einen Moment inne zu halten, anstatt automatisch und oft aggressiv zu reagieren. Achtsamkeitsübungen helfen dabei, die Situation wie sie im Hier und Jetzt ist anzunehmen, wertfrei zu sein, um Kraft zu schöpfen. Kraft, die dann wiederum hilfreich sein kann, an der Wirklichkeit konstruktiv etwas zu verändern.

 


Atmen – Der Einstieg

Die einfachste Achtsamkeits-Übung ist das bewußte Atmen. Dabei kommt es darauf an, den Atem einfach nur zu beobachten. Es mag Einiges geben, das man verändern könnte. Doch jetzt ist (noch) nicht der Augenblick dafür. Jetzt ist die Zeit, um zu sich selbst und seiner Kraftquelle zu finden. Achtsamkeit und Stille können dabei helfen. Wer mit der Achtsamkeits-Meditation beginnen will, konzentriert sich zunächst auf seinen Atem. Er beobachtet, ohne etwas zu verändern. Wem es gelingt, auch nur für wenige Sekunden im Hier und Jetzt, bei seinem Atem, zu sein, der kann seine Sorgen und Nöte loslassen. Er kann den Rucksack, der ihn belastet, ablegen und eine Pause machen.

Vielleicht meldet sich der innere Kritiker und tadelt einen für die abschweifenden Gedanken. Auch ihn kann man achtsam willkommen heißen. Achtsamkeit schließt ihn ein und gibt ihm Raum. Früher rühmten sich hervorragende Hotels und Restaurants mit dem Satz „Welcomed all, served all.“ Jetzt, da sie geschlossen sind, kommt es mehr denn je darauf an, daß man sein Herz öffnet und Zweifel, Ängste, Sorgen nicht verdrängt, sondern ihnen achtsam einen Platz anbietet. Das Wunder der Meditation besteht darin, daß diese Akzeptanz zu einer Befreiung führt.

 


Der Anfang ist der wichtigste Teil

Das wusste auch schon Platon. Gerade in Zeiten der Bedrängnis kann Achtsamkeit und das bewußte Atmen ein Anfang sein, um mit Stress besser umzugehen. Wer es ausprobieren will, fängt also einfach an. Er schließt die Augen, er nimmt seinen Atem war, er beobachtet den Atem, er versucht, nichts zu verändern und einfach wahrzunehmen, was da ist. Im Laufe der Zeit kann die Achtsamkeitsübung zeitlich ausgedehnt werden. Um einen positiven Effekt auf das Wohlbefinden zu spüren und sich zu befreien, reichen am Anfang ein bis zwei Minuten.  Und wer sich von seinen Ängsten und Sorgen befreit, wird sich am Ende auch vom Virus befreien. Achtsames Atmen und achtsames Handeln passen hervorragend zusammen.

 


Autor: Thomas Lang, Dipl.-Psychologe für Sozialpsychologie & päd. Psychologie (BDP)

 

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