Die heutigen technischen Möglichkeiten erlauben Arbeitgebern, ständig und ohne Unterbrechung auf ihre Mitarbeiter zurückzugreifen. Das hat zur Folge, dass viele Berufstätige kein abgegrenztes Freizeitleben mehr haben, weil sie mit ihrem Smartphone immer und überall auf Abruf zur Verfügung stehen. Die Konsequenzen dieses Eingriffs ins Privatleben sind noch weitgehend unerforscht.
Im Jahr 2013 hat die Initiative Gesundheit und Arbeit iga ein erstes Projekt zum Thema gestartet. Im ersten Teil des iga.Report 23 wurden vorhandene Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien, Experteninterviews und einer Unternehmensbefragung zusammengetragen. Seit kurzen liegt nun der zweite Teil des iga.Report 23 vor, der mit einer umfangreichen Studie noch tiefer in die Materie vordringt. Die iga ist mit ihrem zweiteiligen Projekt eine der ersten Organisationen, die sich wissenschaftlich mit den gesundheitlichen Auswirkungen ständiger Erreichbarkeit beschäftigt hat.
Pro und Contra
Die Vorteile der modernen Kommunikationsmöglichkeiten liegen klar auf der Hand. Mobile Arbeit wird dadurch erst möglich. Von überall auf der Welt kann jeder Mitarbeiter im Handumdrehen auf alle benötigten Informationen aus dem Server zugreifen oder mündlich bei der Sekretärin vor Ort Daten abfragen. Andererseits ist der Mitarbeiter selbst auch rund um die Uhr erreichbar, und zwar nicht nur, wenn er sich gerade auf Geschäftsreise befindet. Welche Auswirkungen hat dieser Umstand auf das Privatleben? Ist eine ausgeglichene Work-Life-Balance bei ständiger Erreichbarkeit überhaupt noch realisierbar? Diese Fragestellungen führten die iga zu ihrem ersten Report 23. Schon in einer repräsentativen Umfrage der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2009 hatte ein Drittel der Befragten angegeben, dass sie darunter leiden, immer und überall verfügbar sein zu müssen.
Stand der Wissenschaft
Der erste iga.Report beruft sich auf insgesamt 30 wissenschaftliche Quellen unterschiedlichster Art und Vorgehensweise. Die gesundheitliche Belastung ständiger Erreichbarkeit kristallisiert sich in nahezu allen Erhebungen heraus. Der BKK Bundesverband hat beispielsweise im Jahr 2010 eine Befragung zum Thema ‚Ursachen und Folgen ständiger Erreichbarkeit‘ durchgeführt. 84 Prozent der Teilnehmer gaben an, auch außerhalb der regulären Arbeitszeiten für ihre Vorgesetzten erreichbar sein zu müssen, gute 50 Prozent sogar permanent.
Quelle: iga.Report 23
Im DGB-Index Gute Arbeit 2011 sagten 27 Prozent der Umfrageteilnehmer, dass sie auch in der Freizeit sehr häufig für den Arbeitgeber erreichbar sein müssten. Im gleichen Jahr fragte auch der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien nach der Erreichbarkeit von Mitarbeitern und bekam von 88 Prozent der Befragten zur Antwort, dass sie ihrem Arbeitgeber auch während der Freizeit zur Verfügung ständen. In diesen Umfragen wurde jedoch nicht ermittelt, ob die Befragten auch tatsächlich außerhalb der Arbeitszeit kontaktiert worden waren, oder ob es sich nur um eine potentielle Abrufbereitschaft gehandelt hatte.
Quelle: iga.Report 23
Auf diese Frage suchte erstmals der DAK Gesundheitsreport 2013 eine Antwort. Beinahe 70 Prozent der Befragten gaben hier an, in der Freizeit nie oder fast nie geschäftliche eMails zu lesen. Die Frage, ob die betroffenen Mitarbeiter freiwillig nach Feierabend erreichbar blieben, stellte die Unfallkasse Hessen. Die meisten der 430 Umfrageteilnehmer antworteten darauf mit einem klaren ‚Ja‘ und bewerteten die ständige Erreichbarkeit grundsätzlich positiv. Eine abschließende wissenschaftliche Bewertung des Phänomens war anhand dieser nicht direkt vergleichbaren Ergebnisse schwer zu treffen. Deshalb führte die Initiative Gesundheit und Arbeit im Jahr 2016 schließlich eine eigene Studie zum Thema durch.
Quelle: iga.Report 23
Auswirkungen und Präventionsmöglichkeiten
Um die gesundheitlichen Folgen ständiger Erreichbarkeit zu erforschen, befragte die iga 125 Berufstätige und deren Lebensgefährten. Für die Befragung wurden objektive und subjektive Messmethoden verwendet, mit denen auch Antworten auf die Frage nach Möglichkeiten zur Vorbeugung negativer Auswirkungen gefunden werden sollten. Das bemerkenswerteste Ergebnis der Erhebung ist die Tatsache, dass es für die negativen Folgen ständiger Erreichbarkeit keinen Unterschied macht, ob diese freiwillig besteht oder vom Arbeitgeber verlangt wird.
- Gesundheitliche Auswirkungen
Berufstätige, die auch nach der regulären Arbeitszeit noch für ihren Chef erreichbar sind, schlafen häufig schlecht. Sie schaffen es oft nicht, in der Freizeit abzuschalten und sich gedanklich von ihrer Arbeit zu lösen. Die direkte berufliche Belastung während der Arbeitszeit geht also nach Feierabend als indirekte Belastung weiter.
- Empfundene Belastung
60 Prozent der Berufstätigen, die angaben, ständig erreichbar zu sein, wünschten sich eine gesetzliche Regelung für die Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit. Beinahe 70 Prozent der betroffenen Lebensgefährten wünschten sich sogar, dass die Erreichbarkeit nach Feierabend ganz entfällt.
- Der Vergleich
Die Erreichbarkeitsgruppe wurde in der Studie mit einer Kontrollgruppe hinsichtlich Erholungsfähigkeit, Erschöpfung, Schlaf, Depressivität, Angst und Panik verglichen. Die Kontrollgruppe schnitt beinahe in allen Bereichen besser ab. Bei den Erreichbaren erwiesen sich beispielsweise 36 Prozent als erholungsunfähig, in der Vergleichsgruppe waren nur 16 Prozent in dieser Hinsicht auffällig geworden.
Fazit – Was ist zu tun?
Abschließend stellt die iga-Studie die Frage: Welche Rahmenbedingungen sorgen für langfristige Gesundheit und bestmögliche Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter? Wie sollen Vorgesetzte die Möglichkeiten der Erreichbarkeit handhaben, um dem Menschen und dem Unternehmen gleichermaßen dienlich zu sein? Die Forscher kommen diesbezüglich zu dem Ergebnis, dass „nur in den Organisationen und Betrieben selbst und gemeinsam mit den Mitarbeitern“ Antworten auf diese Fragen gefunden werden können. Hier ist also das Betriebliche Gesundheitsmanagement gefragt.
Auf diesem Parkett möchte der Energieversorger EnBW als beispielhafter Vortänzer dienen. Die dafür zuständige Konzernexpertin für Arbeits- und Organisationspsychologie heißt Annette Grötzinger, in einem Interview hat sie schon 2015 ausgeführt, wie das Unternehmen die Grenzen der Erreichbarkeit setzen will. Grötzinger nennt das ‚gute Zäune‘ bauen. Damit sind feste Regenerationszeiten gemeint. EnBW setzt auf strategisches BGM und gesunde Führung. Mit diesen Stichworten ist Annette Grötzinger ganz bei den iga-Forschern. Diese führen in ihrem Fazit sogar aus, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Erreichbarkeit das ausschlaggebende Argument für die schlussendliche Einführung eines systematischen BGM sein könnte. Für den Umgang mit dem Thema bekommen die Verantwortlichen im Studienreport abschließend verhaltenspräventive Ansätze an die Hand.
Aus Kindern werden Arbeitnehmer
Die Zeit online fordert in einem Artikel zur ständigen Erreichbarkeit einen Kulturwandel in den Unternehmen. Die Online-Ausgabe der renommierten Wochenzeitschrift berichtet über die iga-Studie und legt den Fokus besonders auf die jüngeren Arbeitnehmer unter 30 Jahren.
Dazu wird auch eine Bitkom-Studie mit dem Titel ‚Arbeit 3.0 – Arbeiten in der digitalen Welt‘ zitiert. Demnach sind es vor allem junge Berufstätigen, die sich schlecht abgrenzen können. Dadurch verschwimmen Berufs- und Privatleben, befristete und prekäre Arbeitsverhältnisse zu Beginn der Karriere verschlimmern die Situation oft noch.
Der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer geht noch weiter in die Jugend zurück. Für ihn beginnt die ‚digitale Demenz‘ bereits in der frühen Kindheit, wie er der Elternredaktion von t-online bereits im Jahr 2012 in einem Interview verriet. Der medienkritische Wissenschaftler verurteilt vehement die ständige Erreichbarkeit im Privatleben der heutigen Jugend. Folgt man der Argumentation Spitzers, legen Facebook, Smartphone & Co vielleicht schon bei den Kleinsten einen soliden Grundstein für die spätere Bereitschaft zur ständigen Erreichbarkeit in der Berufswelt.